judith levi (1889-1941) und rahel levi (1891-1941)

kleinkind oder mutter?

judith wurde zwei jahre nach ihrer geburt zur mutter. früh übt sich, wer eine meisterin sein will, dachte sie sich damals, schmiss ihre kleine porzellanpuppe in die ecke und spielte ab dann hauptberuflich echte mutter ihrer frischgeborenen schwester rahel. ein klein wenig half noch die ins haus geholte amme rosa. die leibliche mutter hatte sich geweigert, das kind in den arm zu nehmen, geschweige denn es zu stillen. sie hatte wohl sowas wie eine postnatale depression, die anno dazumal – wir schrieben das jahr 1891 – niemand so genannt hätte. hysterisch war sie halt. das reichte als diagnose. die therapie war es, sie in ruh zu lassen und eine amme ihre arbeit tun zu lassen. der vater, der viel zu sehr damit beschäftigt war, sein geld zu vermehren, hatte weder zeit noch lust sich um die seelisch leidende zu kümmern. man ließ sie im abgedunkelten zimmer in ihrem schlafgewand sitzen und löcher in die wand starren. nachdem sie sich aber auch weigerte etwas zu essen und schließlich völlig verstummte, und ihr ehemann ephraim nicht schuld dran sein wollte, wenn denn alsbald ein skelett im sessel am fenster mit zugezogenen vorhang saß, ließ er sie in eine anstalt für geisteskranke einweisen. er rieb sich die hände, als sie abgeholt wurde. das tat er immer, wenn er ein geschäft zum erfolgreichen abschluss brachte. die amme gefiel ihm. er der amme weniger, aber das nein-sagen von frauen nahm man damals nicht so ernst. irgendwann ging die amme, weil das kind abgestillt war, und die große schwester judith eindrucksvoll die meisterinnenprüfung abgelegt hatte. die alte haushälterin maria übernahm die stelle der assistentin für die eifrige ersatzmutter judith.

von der ersatzmutter zur ersatzfrau

rahel gedeihte gut. und so vergingen die jahre. der vater war wenig zuhause. war er es, war er sehr liebevoll zu seinen töchtern. er dankte judith von herzen für ihre fürsorge gegenüber ihrer schwester und ließ sie wiederholt wissen, dass sie ihre mutter nicht nur gut ersetzt, sondern sie sogar übertrumpft habe. „rahel kann froh sein, dich zu haben. bei eurer mutter hätte sie es nie so gut gehabt.“ worte wie diese ließen judiths brust stolz anschwellen, was wiederum dem ephraim nicht unbemerkt blieb. kurz vor judiths zehntem geburtstag, bat er sie abends zu sich ins arbeitszimmer, in seinen schoß und flüsterte ihr ins ohr, dass nicht nur rahel eine mutter brauchte, sondern auch er eine frau. von da an besuchte judith ihren vater immer dann abends allein im arbeitszimmer, wenn dieser zuhause und rahel nach der gute-nacht-geschichte bereits eingeschlafen war. das muttersein liebte judith. das ehefrausein weniger. doch darüber sprach sie nicht. erst als etwas zeit verging und der älter werdende ephraim auch interesse an der kleinen schwester zeigte, weihte sie ihre schwester in ihr geheimnis ein. (die haushälterin maria schien übrigens nicht nur schwerhörig, sondern auch auf beiden augen blind, sobald der vater zu hause war.) rahel verstand nicht. sie war noch keine zehn jahre alt. wann auch immer der ephraim die jüngere tochter zu sich rief, drängte sich die ältere vor, schloss die tür zum arbeitszimmer hinter sich und vor der nase ihrer wütenden schwester und stürzte sich in die arme des vater. das ablenkungsmanöver funktionierte eine weile. aber nicht auf dauer. irgendwann war rahel schneller im arbeitszimmer als ihre ältere schwester. danach hatte sie es nie mehr wieder eilig zu ihm zu kommen.

der ihhh-dolf

auf der anderen straßenseite ihres recht ansehnlichen hauses lebte ein seltsamer junge. er zog mit seinen eltern und geschwistern erst vor ein paar jahren hierher und zeigte ein neugieriges interesse an den schwestern, sprach jedoch nie mit ihnen, stand nur still am zaun und beobachtete sie, wenn sie im garten waren. auch mit anderen kindern spielte er nie. er war meist allein, murmelte unverständliches vor sich hin und hatte freude daran, den insekten, die ihm in die quere kamen, die beine und flügel auszureissen oder äste in größere tiere zu bohren, bis diese starben. judith und rahel fanden ihn gruselig und nannten ihn ihhhh-dolf statt adolf, wie ihn seine eltern und geschwister riefen. irgendwann kam ihhh-dolf in die pubertät. judith auch, und auch rahel schien ihrer schwester und dem gruseligen nachbarn hinterherzueilen. jedenfalls nahm das gestarre des jünglichen testosterongeschwängerten ihhh-dolfs zu. die blicke hafteten sich vor allem an die allmählich praller werdenden rundungen der inzwischen knapp 13jährigen rahel. im frühling 1904 spielte rahel mit ihrer katze mimi im garten, während judith der maria in der küche half. kätzchen mimi wurden die liebkosungen der rahel irgendwann zu fiel und sprang über den gartenzaun. rahel aber war noch ganz und gar nicht fertig mit ihren streicheleinheiten, öffnete das gartentor und verfolgte das überforderte kätzchen, das in eine seitengasse einbog.

das schicksal ist eine katze

und weil das schicksal ein grausames ist, hat das alles natürlich der ihhh-dolf gesehen und seine große chance gewittert, endlich mit der rahel allein sein und sich ein paar liebkosungen von ihr holen zu können. seitengasse war nicht nur eine seitengasse, nein, auch noch eine sackgasse, die mimi war weg, und die rahel plötzlich die katze im sack. da stand sie verängstigt und sah angewidert den einen kopf größeren nachbarsjungen auf sich zukommen, der hämisch grinste. rahel erstarrte. so, wie sie es auch tat, wenn sie ihr vater im arbeitszimmer angriff. was für ein süßes kätzchen sie doch für den ihhh-dolf war. er freute sich riesig, fummelte an ihr rum, zog ihr kleidchen hoch, schleckte ihr übers gesicht, drückte ihre brüste und vergaß alles drumherum wahrzunehmen. er war im jungmännchenhimmel, sie die erste frau, die er anfassen durfte, wie er es nachts in seinen verbotenen feuchten träumen sich tausendfach ausgemalt hatte. und dann. bam! alles weg. ihhh-dolf findet sich in der dunkelheit am boden in der sackgasse wieder und weiß nicht, wo die katze rahel abgeblieben ist und warum er plötzlich so eine brummende beule am schädel wachsen fühlen konnte. kurz darauf zog der gruselnachbarsjunge weg.

die levi-schwestern und die männer

judith und rahel atmeten erleichtert auf. aber nur kurz. denn nach ihhh-dolf kamen andere testosteronzombis, die es allesamt auf die gar recht lieblich anzuschauende rahel abgesehen hatte. judith schimpfte sie stets, dass sie die jungen männer nicht anschauen dürfte, und wenn sie sie anschauen musste, dann nur streng und böse. sie solle sich außerdem nicht so auftakeln, sie fordere damit die männerwelt nur auf. aber rahel war anders als ihre schwester judith, die alles männliche völlig ablehnte. rahel verliebte sich schnell, wurde viel ausgenutzt, litt unendlich stark bis sie sich erneut verliebte. als die schwestern 18 und 20 waren, wurde der vater vor einem lokal in linz tot aufgefunden. erschlagen. mehr hat man nie erfahren. die mutter war zu jener zeit noch immer in der irrenanstalt und blieb es auch bis zu ihrem tod ein paar jahre später. die schwestern lebten nach dem tod ihres vaters eigentlich ganz gut. sie waren frei. und reich. der ephraim hatte zeit seines lebens genug geld gemacht. womit, wussten die töchter nicht so genau. die geschäfte waren auch nicht immer ganz sauber, munkelte man in der nachbarschaft. aber vielleicht sprach da auch nur der neid aus ihnen. rahel und judith heirateten nie. die eine nicht, weil sie es sich schon damals als junge ersatzehefrau ihres vaters geschworen hatte, die andere nicht, weil man sie eine hure rief, nachdem sie sich leidenschaftlich und oft verliebte, ihren gefühlen immer freien lauf ließ und sich mit haut und haaren auf diese großen lieben einließ. so eine wollte keiner, sagte man.

und wieder kam der ihhh-dolf

der ihhh-dolf von damals wurde übrigens ein großer führer, der es – glaubt man den gerüchten aus engsten führerkreisen – persönlich veranlasste, die beiden schwestern 1939 aus ihrem haus in leonding abzuholen und nach theresienstadt zu bringen, wo sie 1941 vergast wurden. während der 22 monate im konzentrationslager gab es keinen einzigen tag, an dem rahel nicht zu ihrer schwester sagte: „hättest du damals bloß fester zugehaut. dann hättest uns das alles erspart.“