textauszug aus dem roman: die lieder ihrer hände
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Hände voller Schönheit
Sie waren rau und warm zugleich. Nicht gewaltig, aber kräftig. Hände, die viele Menschen, viele Tiere, viele Dinge gespürt, gefühlt, bearbeitet, gebaut und zerstört hatten. Hände, die Liebe geben, aber auch Leben nehmen können. Keine gewalttätigen Hände, die aus Hass zerstörten, Hände, die aus der Not heraus, aus Hunger oder der Notwendigkeit heraus zerstörten. So waren sie, seine Hände. Es waren die schönsten Hände, die sie je gesehen hatte. Nicht, weil sie objektiven Kriterien der Schönheit entsprachen, sofern es diese überhaupt gab. Manche mögen nur den Schmutz unter den Fingernägeln und die tiefen Furchen sehen, in denen sich Reste von Begegnungen mit Kühen, Ziegen, Dung und den Arbeiten am Feld eingeschmiegt hatten. Und manche würden sich sogar gut überlegen, ob sie diese Hände überhaupt angreifen wollten, wenn sich keine unmittelbaren Desinfektionsmöglichkeiten im Nachhinein ergaben.
Sie hatte solche Touristen gesehen. Und sie konnte sich seltsamerweise an sie erinnern – welch‘ unwichtiges Detail und doch waren sie da. Die Touristen, die ihr da und dort – wo genau, wusste sie nicht – begegnet waren. Sie waren gierig nach den „authentischen“ Seiten des jeweiligen Reiselandes, hatten aber immer ein Desinfektionstüchlein bei der Hand, um sich die Authentizität schnell mal wieder abzuwischen, wenn sie ihnen zu nahe gekommen war. Alles sehen, aber nur nichts berühren. Und mit den Touristen erinnerte sie sich an eine Welt, die ihr bekannt war, vor der es sie ekelte, weil sie so steril war. Es war die Welt der Sagrotan-Elite, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, jedes bakterielle Lebewesen in ihrem Umkreis zu zerstören. Menschen, die in sterilen Bunkern lebten, sich auf strahlend weiße Betttücher legten und am liebsten duftende Blumen statt Kot scheißen würden. Das Deodorant einmal zu vergessen und den tatsächlichen Geruch seines Körpers zu riechen oder schlimmer noch, ihn andere Menschen riechen zu lassen: ein Faux-pas, der Albträume nach sich ziehen würde. Diese Welt kam ihr vertraut vor, doch sie war nicht Teil davon, verabscheute sie sogar.
Es gab für sie in diesem Moment nichts Ehrlicheres und Schöneres als die Hände von Meme Rigzin. Sie wünschte sich so klein wie eine Elfe zu sein, um sich in seinen Händen verkriechen zu können. In Embryonalstellung, ganz zurück zum Ursprung. Zu. Vollkommen sicher. Eingehüllt.
Vieles war ohnedies weg. Das Wissen darum, wie sie hierher gekommen war. Wie und wo sie überhaupt entstanden war, als menschliches Wesen. Die Vergangenheit ein tiefes, dunkles Brunnenloch, in das sie zwar hinabsah, aber kein Wasser, auch keinen trockenen Boden ausnehmen konnte. Erst als sie hier vor einigen Tagen zum ersten Mal Paljor und Meme wahrgenommen hatte, da nahmen die Dinge, das Erlebte wieder Gestalt an und wurden in ihrem Kopf abgespeichert. Paljor und sein Großvater machten ihr keine Angst, sie spürte, dass sie gute Menschen waren, die ihr nichts zuleide tun wollten. Sie hatte Schmerzen, wusste aber, dass es nicht sie gewesen waren, die ihr die Wunden zugefügt hatten. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich wie zu Hause. Ein fremdes, nie gekanntes Zuhause, aber eines das ihr gut tat. Sie verstand die beiden nicht, wie und was sie miteinander sprachen und doch vertraute sie ihnen. Nur eines machte ihr Angst: zu sprechen. Oder war die Fähigkeit zu sprechen verloren gegangen? Und machte ihr das Angst? Sie konnte denken in einer Sprache, die sie verstand, konnte sie aber nicht einordnen, nicht benennen.
Aus unerklärlichen Gründen war es ihr nicht möglich, den Mund zu öffnen und Laute durch ihn heraus dringen zu lassen. Sie wusste nicht wie. Das Selbstverständlichste der Welt war zu etwas geworden, das ihr wie die Besteigung des Mount Everest vorkam. Mit schlaffen Armen und Beinen stand sie vor diesem Riesenberg und wusste nicht, wie sie ihn je bezwingen sollte. Dieser Brocken vor ihren Augen, eingehüllt in dicke schwarze Wolken, mit unheilverkündendem Donnergebrummel und zackig schnellen Blitzen, die die Dunkelheit kurz in beängstigendes Licht tauchten. Dort wollte sie nicht rauf. Dort konnte sie nicht rauf.
Und dann war da seine Hand, ganz nahe bei ihr und sie arbeitete sich langsam und vorsichtig an sie heran. Millimeter um Millimeter führte sie ihre Hand näher an die seine. Ein kleines weißes Kätzchen, das mit einer hundertjährigen Schildkröte kuschelte. Ihre junge weiße Hand in der alten, schweren Hand des Meme. Geschichtslosigkeit in einem dicken Buch. Sie fühlte ihn, er fühlte sie. Sie fühlten miteinander. Und mit jeder Unze Gefühl wurde der Berg vor ihr kleiner und erschien ihr in naher Zukunft vielleicht sogar bezwingbar. Zwei Tränen rannen über ihre Wangen – eine rechts und eine links.