charlotte bellona rosenthal geb. scheckmann (1893-1918)

die superlativa

charlotte war die superlativa unter ihren sieben schwestern und brüdern. die älteste. die klügste. die fröhlichste. die neugierigste. die was-auch-immerste. und natürlich auch das liebste kind des vaters bruno scheckmann, besitzer einer spiegelfabrik in graz puntigam. er war standesgemäß spiegeltrinker, ein südsteirischer feschak, der sich nur zu gern mit seinen weiblichen mitarbeitenden vergnügte, was diesen saftige sonder-boni und einige uneheliche kinder bescherte. dieser umstand bescherte wiederum der ohnedies depressiven mutter bertha aggressive schübe, die sie an den kindern ausließ. vor allem an charlotte, da sie es war, die papas herz seit geburt an um den finger wickelte, die tun und sein lassen konnte, was auch immer ihr in den sinn kam, während es mama bertha nicht erlaubt war, ungefragt das haus zu verlassen. papa bruno war eifersüchtig, weil er in jedem mann da draussen einen spiegel seiner selbst sah.

charlotte und ihre liebe zu krankheiten

aber die charlotte, die durfte kommen und gehen, allein auf den schmutzigen puntigamer straßen herumstreunern, tierleichen aufklauben und diese im schuppen hinter ihrer villa sezieren. sie hatte ein ungewöhnliches interesse an krankheiten, liebte es ihren onkel, einen arzt, über die grauslichsten krankheiten, die er je gesehen hatte, auszufragen. insbesondere die hautkrankheiten hatten es ihr angetan. immerhin waren die in sachen grauslichkeit kaum zu übertreffen. an diesem punkt mag man wohl vermuten, dass sich die charlotte zu einer psychopathichen serienmörderin entwickeln würde. nein, weit gefehlt. die charlotte brachte es nicht übers herz jemandem weh zu tun. nie, kein einziges mal, hat sie eines ihrer geschwister geschlagen, nicht mal dann, wenn diese als personifizierte teufelskrätzen an ihren haaren zogen oder sie in die oberarme zwickten. nur sezieren ging, weil‘s ja niemandem mehr weh tat. papa ließ sie dann trotz des widerstands von mama, die meinte, das kind solle doch endlich heiraten, nachdem die hunderten geliebten und tausenden bankerts das ganze familienvermögen irgendwann gänzlich auffressen würden, medizin studieren.

das studium und der krieg

also studierte die charlotte medizin, wechselte dann jedoch über zur pharmazie. sie verliebte sich hals über kopf in die unglaubliche wirkkraft der kräuter, nachdem ihr eine kommilitonin ein buch über altes heilwissen zuspielte. sie war nicht zuletzt auch davon fasziniert, dass es vor allem die frauen waren, die über die jahrhunderte wussten, welches kraut was heilen würde. sie war angefixt. ab da verbrachte sie jede freie minute im studium, im draussen pflanzen sammeln, sie an sich selbst und ihren geschwistern testen. auch an der mutter, die sie versuchte mit johanneskraut von ihren depressionen zu heilen. die mutter jedoch verschmähte das tochterzeugs, weil sie in ihrem fortschreitenden wahn meinte, die charlotte würde sie vergiften wollen, um sich an papa bruno ranzumachen. dann kam der krieg und der nahm ihnen allen den vater und mit dem vater ging die fabrik schnell den bach runter. und mit der fabrik sehr schnell das familienvermögen. und mit dem familienvermögen die letzten funken geistiger gesundheit der mutter, die sich 1916 in die mur stürzte und ertrank.

… und dann kam otto

doch bevor sie diesen sprung ins kalte wasser tat – es war im november – , versprach sie noch dem benachbarten verwitweten kaufhausbesitzer otto rosenthal die hand von charlotte, der sich schon seit sie 14 oder 15 war lüstern die augen verrenkte, wenn sie sein kaufhaus betrat. er würde auch dafür sorgen, dass die anderen noch minderjährigen geschwister finanziell abgesichert seien, versprach er der desolaten mama, während er vieldeutige liebesblicke mit der zugluft hinüber zur starr gewordenen charlotte schickte. da war nix zu machen. sie war auch die pflichtbewussteste. also heiratete sie den otto, kurz nachdem man die mama aufgedunsen bei spielfeld gefunden hatte. das studium beendete sie natürlich auch. darauf bestand der otto, in dem sich die eifersucht papas spiegelte. er sperrte die charlotte traditionsgemäß in den goldenen käfig oberhalb des kaufladens. nur in den garten durfte sie. der war auch gut eingezäunt, weil der otto zwei deutsche schäferhunde hatte, vor denen man die nachbarschaft schützen musste. wie praktisch. im garten führte sie ihre studien fort. pflanzte dort kräuter, denen die nachbarsfrauen die silbe „un-„ vorsetzten, ausrissen und über den gartenzaun rüber zu charlotte warfen. die pflanzen waren ihre letzte freude. die superlativa wandelten sich. sie war die unglücklichste, die lebensmüdeste, die leidendste. die wunden, die ihr der otto zufügte, heilte sie selbst.

… und mit ihm der tod

1917 hatte sie eine todgeburt. 1918 die nächste. otto wollte keine kinder mehr. er hatte schon aus erster ehe eine handvoll. die ungeborenen kinder mit charlotte schlug er ihr aus dem bauch. im sommer 1918 fand er sie tot im garten liegend. in der hand ein zettel mit der aufschrift: das hätte dein ende sein sollen. die todesursache war schnell gefunden. der garten war ein dreidimensionales hyperreales lexikon heimischer giftpflanzen. wie leicht sie doch den otto hätte loswerden können, wär sie nicht auch das superlativ des adjektivs gewesen, das eine person beschreibt, die keiner fliege etwas zuleide tun kann.